Die Autobranche steht vor dem größten Umbruch ihrer Geschichte. Ulrich Eichhorn und Henning Kagermann diskutieren die drängendsten Fragen.

Text: Jochen Förster, Tom Levine | Fotos: Holger Talinski

Wo geht’s lang bei E-Mobilität und Gasantrieb? Wie werden aus Autoherstellern von heute Mobilitätsdienstleister von morgen? Werden wir in zehn Jahren noch Autos besitzen? Und was kann der Volkswagen Konzern von der Software branche lernen? Was die großen Fragen künftiger Mobilität angeht, kann kaum jemand mehr Expertise vorweisen als unsere Gesprächspartner an diesem Nachmittag im DRIVE, dem Volkswagen Group Forum in Berlin: Dr. Ulrich Eichhorn, Leiter Forschung und Entwicklung des Volkswagen Konzerns, und Prof. Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und ausgewiesener Vordenker in Mobilitätsfragen. Die beiden kennen einander aus vielen Fachdiskussionen. Beide sind promovierte Naturwissenschaftler – der eine Maschinenbauer, der andere Physiker. Und beide schätzen das klare, offene Wort.

Herr Eichhorn, der Beginn der E-Ära wird seit Jahren vorausgesagt, bislang allerdings ist E-Mobilität selbst im Kernland China noch kein Massenmarkt. Wann wird es so weit sein?
EICHHORN Ich rechne mit 2020. Bis dahin wird die Batterieproduktion so günstig sein, dass wir E-Autos zu einem erschwinglichen Preis anbieten können, und bis dahin wird es eine sinnvolle Ladeinfrastruktur geben. Sprich, die E-Fahrzeuge, die wir ab 2020 auf den Markt bringen, haben eine Reichweite von bis zu 600 Kilometern und lassen sich in 15 bis 20 Minuten zu 80 Prozent laden. Und das zu einem Preis, der herkömmlichen Antrieben entspricht. Damit wären die drei Hauptgründe beseitigt, die Kunden vom Kauf eines E-Autos abhalten: hoher Preis, geringe Reichweite und unzureichende Lademöglichkeiten.

„Wir können Erdgas bald erneuerbar herstellen.
Erdgasautos fahren damit CO₂-neutral.“

Dr. Ulrich Eichhorn, seit 2016 Leiter des Volkswagen Konzernbereichs Forschung und Entwicklung

Lenkrad oder nicht Lenkrad? Ulrich Eichhorn (r.) zeigt Henning Kagermann, dass Selbstfahren auch weiterhin Spaß machen darf.

Norwegen und China liegen bei der Zahl der E-Autos weit vor den USA oder Deutschland. Was können wir von diesen Vorreitern lernen?
KAGERMANN In diesen Ländern ist die Stützung des Marktes durch die Regierung ungleich größer. Norwegen erlaubt Fahrern von E-Autos das Nutzen von Busspuren und kostenlosen City-Parkplätzen. China nutzt ein noch stärkeres Instrument – die Zulassung. Wenn Sie in Schanghai ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor kaufen, warten Sie oft Jahre auf Ihr Nummernschild. Beim Kauf eines Elektrofahrzeugs kriegen Sie es sofort. Solche Mittel nutzen wir aus guten Gründen nicht. Aber auch in Deutschland hat sich einiges getan, Stichwort Umweltprämie und Ladeinfrastrukturprogramm. Global gesehen sind andere allerdings deutlich weiter.

Was tut Volkswagen für die Infrastruktur?
EICHHORN Wir haben mit anderen Herstellern das europäische High-Power-Charging-Netzwerk IONITY gegründet, um ein Schnellladenetz auf den Autobahnen und wichtigen Landstraßen in Europa aufzubauen. In Amerika machen wir Ähnliches mit Electrify America. Das Schnellladen ist für uns entscheidend, um E-Mobilität auch auf Langstrecken attraktiv zu machen. Bis 2020 werden wir in Deutschland Schnellladestationen an allen Autobahn-Tankstellen und -Raststätten haben. Viele davon werden von uns kommen.

Stichwort Reichweite: Muss, wer führender e-mobility-Dienstleister werden will, die Batterieproduktion nicht in die eigene Hand nehmen?
KAGERMANN Ich halte die Technologie der Gesamtbatterie, insbesondere auch der Batteriezellen, für die Kernkompetenz. Die Batterie entscheidet maßgeblich über Qualität, Kosten und Performance. Sie wird künftig so entscheidend sein wie der Motor heute. Erfreulicherweise stellt Volkswagen in Salzgitter bereits Batterien her. Bei der Batteriezellen-Produktion sieht es anders aus. Sie ist jedoch von strategischer Bedeutung.
EICHHORN  Wir haben schon seit Jahrzehnten ein Batterielabor – nur eben noch keine Massenproduktion. Klar ist, Batteriepakete sind integraler Bestandteil des Fahrzeugs. Diese fertigen wir inhouse, etwa in Braunschweig, oder kaufen sie bei Zulieferern. Ein tiefes Know-how der Batteriezellen brauchen wir ohnehin. Wir müssen als Autohersteller verstehen, wie sich Batteriezellen im Fahrzeug verhalten, auch bei minus 15 Grad. In die Massenproduktion zu gehen, ist dagegen vor allem eine Frage der Wirtschaftlichkeit.

Zurzeit setzt der Volkswagen Konzern nicht allein auf E-Mobilität, sondern auf einen Antriebsmix, zu dem Diesel mit Euro-6-Norm und Gas gehören. Ist das halbherzig oder klug?
EICHHORN Vor allem ist es realistisch und trägt dem Umstand Rechnung, dass Autos mit Verbrennungsmotoren heute echte Alleskönner sind. Der Diesel ist bei Bussen und Lkw, speziell für Langstrecken, erstens die effizienteste Lösung und zweitens sauber. Und bei Pkw zählen unsere heutigen EA 288-TDI-Motoren zu den saubersten überhaupt. Den Schadstoffausstoß haben wir weitgehend getilgt – und beim CO₂-Ausstoß hat Diesel große Vorteile. Warum wir auch auf Erdgas setzen: Wir können es bald erneuerbar herstellen. Nahe Cloppenburg betreibt Audi eine Anlage, die aus Windstrom synthetisches Methan macht. Erdgasautos fahren damit CO₂-neutral. Ich glaube, wir werden in absehbarer Zeit einen Antriebsmix haben, bei dem der E-Antrieb den Verbrennungsmotor ablöst. Bis 2025 sollen ein Viertel unserer verkauften Fahrzeuge reine E-Autos sein. Was auch heißt: Bis dahin brauchen wir eine solide Infrastruktur für die Produktion von 2,5 Millionen E-Autos.

Soll der Volkswagen Konzern seine Batteriezellen selbst produzieren? Die Experten sind sich nicht ganz einig.

Antriebsstränge sind natürlich wichtig. Aber müssen Autohersteller nicht auch in puncto Connectivity viel schneller werden? Handys kriegen alle paar Wochen ein Software-Update.
EICHHORN Daran können wir uns nur teilweise orientieren. Wenn das Handy frisch upgedatet ist, nachher bestimmte Dinge nicht mehr kann oder sich plötzlich abschaltet, ist das nicht so lebensgefährlich wie beim Auto. Erprobungs- und Absicherungsaufwand sind bei uns ganz andere.

Inwiefern erfindet Connectivity die Mobilitätsbranche neu?
KAGERMANN Die Herausforderung ist nicht so sehr, einen Link vom Auto zum Internet herzustellen. Das ist einfach. Ich glaube eher, dass künftig Mobilitätsplattformen eine zentrale Rolle spielen werden. Das verändert den Markt grundlegend. Womöglich werden die Plattformbetreiber zur stärksten Konkurrenz für Autohersteller. Einen großen Pluspunkt für die Hersteller sehe ich beim autonomen Fahren. Hier werden die Kunden eher Volkswagen vertrauen als Start-ups.
EICHHORN In den nächsten Jahren fließen drei technologische Innovationen – Elektromobilität, Connectivity und automatisiertes Fahren – mit zwei gesellschaftlichen Trends zusammen: Urbanisierung und Nachhaltigkeit. Unseren Kunden ermöglicht das ein völlig neues Erlebnis auf drei Ebenen: „mobility as a service“ in einem automatisierten E-Fahrzeug. Wir haben mit dem Sedric schon 2016 erprobt, wie gut das funktioniert. Zurzeit erforschen wir intensiv, wie Kunden solche Autos möglichst einfach buchen und in ihren Mobilitätsalltag integrieren können.

„In der Softwareindustrie sind agile Arbeitsformen seit Langem verbreitet.“

Prof. Henning Kagermann, seit 2010 Vorsitzender der Nationalen Plattform Elektromobilität

Wie bleibt man in einem solchen Dienstleistungsmarkt als Automarke relevant?
EICHHORN Wenn wir als Volkswagen Konzern eigene Fahrservices betreiben, ist die Qualität unserer Fahrzeuge ein entscheidender Faktor – Design, Engineering, Fahrkomfort. Aber eben auch der Service in allen Belangen: Verfügbarkeit, Sauberkeit, Abrechnungssystem, Assistenzsysteme. Beziehungsweise künftig auch: Wie gut funktioniert das autonome Fahren. Kurz: Wir als Volkswagen Konzern werden dann nach ungleich mehr Performance-Kriterien bewertet als heute.

Bisher ist Volkswagen stark ingenieursgeprägt. Muss der Konzern IT-getriebener agieren?
KAGERMANN Darin sehe ich eine Herausforderung für die gesamte Branche. In der Softwareindustrie sind agile Arbeitsformen und „destruktiv-schöpferische Innovationszyklen“ seit Langem verbreitet. Sprich, da wird alle paar Monate das Gesamtsystem infrage gestellt. Sie müssen Leadership-Strukturen anpassen und ihre Entwickler auf neue Methoden umschulen. Weiterhin bauen Software-Unternehmen seit jeher stark auf partnerschaftliche Innovationen. Auf diesen Gebieten kann die Autoindustrie manches dazulernen.

Was für Autohersteller nicht zuletzt heißt, dass Gewerke wie Forschung, Design und IT künftig viel enger zusammenarbeiten müssen.
EICHHORN Die Konzernstrategie heißt ja nicht umsonst „TOGETHER 2025“. Aber eben auch nicht „TOGETHER 2020“, weil wir neue Denk- und Arbeitsweisen nicht über Nacht installieren können. Immerhin arbeiten die Marken schon heute in der Forschung und Entwicklung ungleich stärker zusammen als vor einigen Jahren. Und 2017 haben wir die Position des Baureihenleiters eingeführt, der für alle Fahrzeug-Aspekte verantwortlich ist und integrierte Arbeitsprozesse vorantreibt.

Von der IT lernen: Ex-SAP-Manager Henning Kagermann (l.) sieht Software-Unternehmen bei der Teamarbeit vorn.

Diskussion mit DRIVE: Die Experten im Gespräch mit den Interviewern Jochen Förster und Tom Levine (r.) im Berliner DRIVE. Volkswagen Group Forum.

Auf welchen Ebenen sehen Sie den Volkswagen Konzern besonders gut für die E-Ära gerüstet?
EICHHORN Wir verfügen über ein hochwertiges, breit gefächertes, globales Portfolio. Hinzu kommt, dass wir in den letzten Jahren eine zuvor nicht gekannte Reformenergie entwickelt haben. Die Dieselkrise hatte für die Zukunftsfähigkeit des Konzerns einen aufrüttelnden Effekt. Sie war schlimm und erschütternd, aber auch ein Wake-up-Call zur rechten Zeit. Wir hätten vor drei Jahren sicher keinen Sedric auf eine Motorshow gestellt, kein MOIA gegründet, keine Kooperation mit Start-ups wie Aurora geschmiedet. Der Drang nach Neuem, die Bereitschaft zu echten Innovationen ist heute konzernweit größer denn je.

Wir sprechen viel von Connectivity und Mobility Services. Vergessen wir dabei nicht ländliche Lebensräume? Das Gros der Autokäufer wohnt ja schon heute nicht in Innenstädten.
EICHHORN Wenn ich nicht in Berlin oder L.A. wohne, sondern in Masuren oder der Walachei, kann ich natürlich lange beim Mobilitätsdienstleister anrufen. Zugleich könnte der Sedric durchaus auch in ländlichen Regionen eingesetzt werden, etwa um Kunden nach Kneipenbesuchen abzuholen. Sicher ist: Es wird auch künftig das Privatfahrzeug als Notwendigkeit geben. Oder das Segment der Autofans, die sich aus Spaß hinters Steuer setzen. Mobiles Leben wird multioptionaler.
KAGERMANN Ich sehe im autonomen Fahren eine enorme Chance, den ländlichen Raum wiederzubeleben. Fahrzeuge wie der Sedric machen entlegene Gegenden mobil zugänglich, die mit Bus und Bahn unerreichbar sind. Überdies bedeutet es für manche Zielgruppen ein Plus an mobiler Freiheit und Lebensqualität – etwa für ältere Menschen, Blinde oder Körperbehinderte. Mal abgesehen vom Plus an Freizeit für uns alle und vom Minus an Stress, etwa wenn wir im dichten Verkehr fahren. Da bieten ja schon jetzt einige Modelle eine enorme Unterstützung. So gesehen ist autonomes Fahren wirklich eine tolle Sache.

Ulrich Eichhorn wurde 1961 in Obernburg am Main geboren. Er ist promovierter Maschinenbau-Ingenieur.

Henning Kagermann kam 1947 in Braunschweig zur Welt. Er ist promovierter Physiker.